Wien
15. – 23. November 2025
15. – 23. November 2025
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Kino erleben und begreifen – Wie Kinder Filme rezipieren

 

Das ray Filmmagazin hat eine Sonderausgabe zum Internationalen Kinderfilmfestival 2025 gestaltet.

Darin finden Sie Texte und Interviews zu den Festivalfilmen sowie alle wichtigen Termine. Die Sonderausgabe liegt zur freien Entnahme in allen Viennale- und Kinderfilmfestival-Spielstätten auf und ist auch unter abo@ray-magazin.at gratis bestellbar.

 

 

 

„Nein, rosa mag ich nicht. Ich will es blau!“ ruft die Fee und schwingt ihren Zauberstab. „Ich will es rosa!“ ruft die andere Fee und verwandelt das Kleid in seine ursprüngliche Farbe zurück. „Ich will’s blau!“ ruft die erste Fee wieder und schwingt den Stab energischer. „Rosa!“ „Blau!“ „Nein, rosa!“ „Nein, das Kleid ist blau!“ Die Beiden färben sich gegenseitig um, in diesen satten Technicolor-Farben, die den damaligen Filmen eigen waren. Rosa und blau, glitzernde Funken und glänzende Sternenschweife stieben durch die Gegend und den Kamin hinauf, immer im Kampf miteinander, bis das Kleid schließlich zweifarbig aus dem Zauberstabduell hervor geht.

     Diese Sequenz ist alles, was mir in filmischer Hinsicht von meinem ersten Kinoerlebnis in Erinnerung geblieben ist. Ich erinnere mich an die feierliche Atmosphäre im Kinosaal. Ein altes Provinzkino mit einem geschwungenen Holzbalkon, der an den Seiten weit nach vorne reicht. Es muss im Winter gewesen sein, denn meine Schwester und ich tragen in diesem Erinnerungsstück dicke Mäntel. Ich habe meine roten Schuhe an, die mir zwei Nummern zu groß sind, auf die ich aber mächtig stolz bin. An den Rest des Filmes kann ich mich heute nur erinnern, weil ich Dornröschen von Walt Disney viel später mit meinem Sohn gesehen habe.

     An diesem Beispiel lassen sich zwei Dinge konkretisieren: Erstens ist für das Filmerlebnis sehr wichtig, wo der Film rezipiert wird, und zweitens war ich mit meinen drei Jahren zu jung, um einen so langen Film in der angemessenen Weise rezipieren zu können. Was ich mir gemerkt habe, ist eine Szene, in der Musik, bunte Farben und Wiederholung eine große Rolle spielen, alles formale Dinge, die für sehr junge Kinder von großer Bedeutung bei der Rezeption sind. 

 

Der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß hat in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Begriff geprägt, der als „Erwartungshorizont“ in die Literaturtheorie eingegangen ist und auch auf Filme angewandt werden kann. Vereinfacht ausgedrückt bezeichnet er die Summe aller Erfahrungswerte, die jemand mitbringt, wenn er an die Rezeption bzw. Interpretation eines Kunstwerkes herangeht. Dieser Erwartungshorizont ist sowohl individuell wie gesellschaftlich wie historisch bedingt.

     Individuell in dem Sinn, dass zum Beispiel ein Kind die Zusammenhänge in einem Film in der Regel weniger gut versteht als eine erwachsene Person. Der Grad der Bildung und Erfahrung, die jemand mitbringt, und Erwartungshorizont hängen zusammen. Gesellschaftliche Bedingtheit kann etwa bedeuten, dass Filme aus einem bestimmten Kulturkreis schwer verständlich sind, wenn man diesem Kulturkreis nicht angehört. Filme aus Afrika oder Asien haben oft eine ganz andere Erzählstruktur als europäische und sind deshalb für ungeübte Betrachterinnen ungewohnt. Das historische Moment des Erwartungshorizontes bedingt, dass, wenn man ein Werk rezipiert, das in der Vergangenheit spielt, bestimmte Dinge gar nicht mehr verstanden werden, weil sich die Erfahrungswelt der Protagonist:innen von der des aktuellen Zielpublikums unterscheidet.

     Der Erwartungshorizont ist keine starre Summe von Vorgaben, sondern verändert sich unaufhörlich. Wie das Kind lernt, Zusammenhänge des Lebens besser zu verstehen und damit sein Weltbild ständig zu korrigieren und zu erweitern, lernt man in der Regel auch beim Betrachten von Kunstwerken immer mehr, deren Strukturen nachzuvollziehen und in den eigenen Erwartungshorizont zu integrieren. Das Kunstwerk – wir sprechen hier von Filmen – kann also auch als Rezeptionsvorgabe verstanden werden, die einen Lernprozess vorzeichnet. Lernen verstanden als Ausbildung und Korrektur von individuellem Gedächtnisbesitz. Je mehr Filme wir in unserem Leben sehen, umso besser lernen wir, sie zu lesen und zu begreifen.

 

    Die formale Machart eines Filmes spielt bei der kindlichen Rezeption eine große Rolle, was im Mainstreamfilm viel zu oft missachtet wird. Filmlänge und Erzählperspektive müssen dem Vermögen des Zielpublikums angepasst werden. Je jünger das Kind ist, umso konkreter muss die Erzählweise sein, während mit zunehmendem Alter die Dramaturgie eines Filmes immer komplexer, abstrakter und vielschichtiger werden darf. Klischees weichen im Lauf der Entwicklung differenzierter Figurenzeichnung, und je älter das Filmpublikum ist, umso mehr können mit bewusst gesetzter Formensprache (Zeitlupe, Kameraperspektive, Bildgestaltung, Montage, Tonverfremdung u.a.) emotionale, moralische und gedankliche Entwicklungen dargestellt, Spannung aufgebaut oder Handlungselemente betont werden, ohne dass das Kind dadurch überfordert oder geängstigt wird.

 

Aber wie sieht es mit Inhalten aus? Darf in Kinderfilmen nur eine heile Welt oder dürfen auch Konflikte, Krankheit, Leid, Tod, Gewalt und Krieg gezeigt werden? Mit dieser Frage wird man in der Beschäftigung mit Kinderfilmen immer wieder konfrontiert. Kindern solche Filme vorzuenthalten wäre eine Verleugnung der Wirklichkeit, denn auf der ganzen Welt und in allen Epochen waren oder sind Kinder Leidtragende von Konflikten und Gewalt. Nimmt man unser junges Publikum ernst, dürfen solche Themen nicht ausgeklammert werden. Natürlich ist es dabei besonders wichtig, dass die Probleme aus einer Perspektive und in einer Tonart erzählt werden, die das jeweilige Zielpublikum verstehen kann.

     Eine zweite wichtige Frage im Zusammenhang mit gezeigtem Leid, mit Tod oder Gewalt ist: Was kommt danach? Wird das Kind mit dem Gezeigten allein gelassen oder gibt es eine Entwicklung im Film, die Lösungen bietet und Katharsis, sodass das Kind damit fertig werden und daran wachsen kann? Im heurigen Programm des Internationalen Kinderfilmfestivals gibt es wie jedes Jahr einige Filme, die eine Antwort auf diese Frage bieten.

 

 

CHUSKIT (R: Priya Ramasubban, Indien 2018)

Die junge CHUSKIT (7+) erleidet einen Unfall, durch den sie querschnittsgelähmt wird. Damit zerbricht ihr Traum vom Schulbesuch, denn in dem hochgelegenen Dorf im Himalaya ist es nun für Chuskit und ihre Familie unmöglich, den Schulweg zu meistern. Die Handlung des Films bleibt jedoch nicht an diesem Punkt stehen. Das Mädchen kämpft um seinen Traum und wird am Ende vom ganzen Dorf in diesem Anliegen unterstützt. Sie wird zwar querschnittsgelähmt bleiben, aber der Film zeigt, dass Probleme, die mit einer Behinderung verbunden sind, überwunden werden können und das Leben weitergeht.  

 

 

 

OLIVIA UND DAS UNSICHTBARE ERDBEBEN
(R: Irene Iborra, Spanien/Frankreich/Belgien/Chile/Schweiz 2025)

In OLIVIA UND DAS UNSICHTBARE ERDBEBEN (9+) und HONEY (11+) haben die beiden Protagonistinnen damit zu kämpfen, dass sie Aufgaben übernehmen müssen, für die sie noch viel zu jung sind. Olivia macht dem kleinen Bruder Mut, obwohl sie ob der prekären Situation der Familie selbst immer wieder (im Film bildlich dargestellt) in ein tiefes Loch fällt. Honey übernimmt Aufgaben ihrer überlasteten Mutter und vernachlässigt dabei ihre eigenen Bedürfnisse, vom Vater wird sie gar in kriminelle Handlungen verwickelt. Aber Olivia und Honey bleiben nicht allein mit ihren Problemen. Olivia findet innerhalb der neuen Hausgemeinschaft eine Ersatzmutter und viele Helferlein, während Honey in ihrem bis dato unbekannten Großvater eine wertvolle Stütze erhält, um zu mehr Selbstvertrauen zu finden und schließlich anderen die Grenzen zu setzen, die für ihr Wohlergehen notwendig sind.

 

HONEY (R: Natasha Arthy, Dänemark 2025)

 

 

Ben fällt in LIVING LARGE (12+) aufgrund seiner unerwiderten Liebe zu Klara in eine tiefe Depression. Von der neuen Freundin seines Vaters bekommt er jedoch die Unterstützung, die er braucht, um neuen Lebensmut zu finden.   

 

LIVING LARGE (R: Kristina Dufková, Tschechien 2024)

 

 

DAS GEHEIME STOCKWERK (11+) wiederum ist ein schönes Beispiel dafür, wie Kindern Probleme vermittelt werden können, die für sie aufgrund des fehlenden historischen Hintergrundes schwer nachzuvollziehen sind. In einem klugen dramaturgischen Kunstgriff führt der Regisseur den Protagonisten Karli aus der Gegenwart über einen defekten Aufzug in das Jahr 1938 und stellt dadurch den Erwartungshorizont des heutigen Publikums auf eine Vergleichsbasis, von der aus die Ereignisse in der Nazizeit durch die Vermittlung der Figur Karli erfahren werden können. Er hinterfragt das Geschehen für das heutige Publikum und interpretiert es und macht es damit verständlich.

 

DAS GEHEIME STOCKWERK (R: Norbert Lechner, Österreich/Deutschland/Luxemburg 2025)

 

 

Kindern die Welt mit all ihren Facetten und damit auch mit ihren Schattenseiten in einem Film zu zeigen ist möglich und sinnvoll und trägt zu einer besseren Bewältigung des Alltags durch das Kind bei. So wie unsere Protagonist:innen Probleme überwinden können, lernen auch Zuschauer:innen durch das Gesehene, mit ihrer Welt besser umzugehen. Die Kunst besteht dabei darin, behutsam und unter Berücksichtigung der jeweiligen kindlichen Fähigkeiten vorzugehen.

 

 

Dr. Martina Lassacher

promovierte Literaturwissenschaftlerin,

langjährige Tätigkeit im Bereich Kino und Film mit Schwerpunkt auf Kindern und Jugendlichen